Ex-Marine Harry Brown (Michael Caine) trifft das Schicksal gleich zweimal ziemlich hart kurz hintereinander. Als ihn auch noch die Polizei enttäuscht beschließt er selbst Initiative zu ergreifen.
Im US-Film "Gran Torino" konnte man letztes Jahr im Kino einen 78-jährigen Clint Eastwood beobachten wie er sich mit jungen kriminellen Burschen anlegte. Sein bisher letzter Auftritt als Darsteller brachte ihm viel Lob ein und war gleichzeitig auch der weltweit größte Kassenhit (270 Mio. US-Dollar) in seiner bereits über 50 Jahre andauernden Karriere. Drei Jahre jünger und fast genauso lang im Filmgeschäft ist der Engländer Sir Michael Caine, der in über 100 Spielfilmen mitwirkte und zwei Oscars gewann (für "Gottes Werk & Teufels Beitrag", 1999 und "Hannah und ihre Schwestern", 1986). Einem Millionenpublikum wurde er spätestens als Butler Alfred in den beiden Batman-Verfilmungen von Christopher Nolan bekannt.
In Daniel Barbers Langfilmdebüt übernimmt Caine die Rolle eines Rentners, dessen kleine Eigentumswohnung teil eines riesigen Wohnkomplexes ist. Dieser liegt in einem Problembezirk Londons wo Gewalt und Drogen das soziale Umfeld der Jugendlichen prägen, Anwohner ausgeraubt und nicht nur verbal bedroht werden. Harry Brown, so der titelgebende Name von Caines Figur, hat gerade seine geliebte Frau nach langer Krankheit verloren und steht nun alleine da. Als ihn sein Schachpartner Leonard (David Bradley) um Hilfe bittet, weil er um sein Leben fürchtet, rät Harry ihm davon ab sich selbst zu bewaffnen und verweist auf die Polizei, die ihm helfen würde. Am nächsten Morgen ist sein Freund tot, ermordet. Die Polizei kann die tatverdächtigen Jugendlichen aber nicht lange festhalten.
Filme in denen der Protagonist das Recht in eigene Hände nimmt, im englischen unter dem Begriff Vigilante Movies bekannt, finden sich regelmäßig im Jahresplan der Filmverleiher. Gilt "Ein Mann sieht rot" mit Charles Bronson als Paradebeispiel eines Selbstjustizreißers so findet sich das Thema in variabler, mehr oder weniger spannender Ausführung auch z.B. in Filmen wie "Death Sentence - Todesurteil" (2007) mit Kevin Bacon, "Die Fremde in dir" (2007) mit Jodie Foster oder erst kürzlich "Gesetz der Rache" mit Gerard Butler und "Kick-Ass" mit Nicolas Cage. Daniel Barbers Film, der leider keine reguläre Kinoauswertung in Deutschland bekommt, wirkt im Vergleich mit den genannten Beispielen weitaus realitätsnaher und beeindruckt vor allem durch das Spiel seines Hauptdarstellers, eingebettet in eine formal als auch optisch ansprechende Inszenierung.
Die Charakterisierung der Figuren steht hier an erster Stelle und selbst wenn Gewalttaten mit aller Härte auf den Betrachter einprasseln wirkt das nie effekthascherisch oder selbstzweckhaft. Harry Brown ist an sich ein friedlicher Zeitgenosse, der wie viele Pensionäre sein Leben nach den gegebenen Möglichkeiten verbringt, täglich den Gang zum Krankenhaus ans Bett seiner Frau macht, selbst wenn die ihn schon gar nicht mehr erkennt. Mit seiner Vergangenheit als Marine hat er abgeschlossen. Dass Harry aber diesen beruflichen Hintergrund vorzuweisen hat macht diesen Charakter vor allem weitaus glaubwürdiger als z.B. Jodie Fosters Erica-Bain-Figur, wenn es darum geht später mit einer Schusswaffe auf Menschen zu zielen. Im britischen Beitrag wirkt alles eine Spur nüchterner und weniger der überbordenden Fantasie eines Drehbuchschreibers entsprungen.
Das kühle, trostlose Ambiente des Films ist zum großen Teil auch dem Umstand geschuldet, dass Barber viele Szenen vor Ort gedreht hat, in einer Gegend Londons in der tagtäglich irgendwelche Meldungen von Schiessereien und Bandenkriminalität über den Newsticker gehen. Zudem wurden auch Jugendliche aus der Umgebung gecastet, die im Zusammenspiel mit den Schauspielern eine besondere Stimmung kreieren, die sich auch auf den Zuschauer überträgt. Für Caine war es gleichzeitig eine Rückkehr in eine ähnliche Wohngegend in der er sich selbst in seiner Jugend abgestrampelt hatte um etwas zu werden. Nur Drogen und Waffen waren zu seiner Zeit nicht der Zankapfel. Wenn man die Bilder einer Straßenschlacht als Ausdruck sozialer Unruhe und Wut gegenüber der Staatsgewalt sieht dann wirkt London wie ein Spiegelbild einer beliebigen anderen Großstadt, in der sich nicht um eine perspektivlose Jugend gekümmert wird.
Während Michael Caine den Film fast schon durch seine pure Präsenz trägt finden sich in seinem Schatten allerdings noch eine Reihe nennenswerte Darsteller, die ihren Beitrag zu einem spannenden Thriller liefern. Dass ein alter Mann unbemerkt Leute abknallt kann sich aber nur die frisch versetzte Inspektorin Alice Frampton vorstellen. Gewohnt überzeugend spielt Emily Mortimer (The 51st State, Shutter Island) diese introvertierte, fast zerbrechlich wirkende aber tough handelnde Person, die mit sich selbst nicht im Reinen zu sein scheint und dies Auswirkungen auf ihre Entscheidungen hat. Eine interessante Figur über dessen Abgründe man gerne etwas mehr erfahren hätte. Gleiches gilt auch über weitere Personen in diesem Spiel ums Überleben zu sagen.
So bleiben Charlie Creed-Miles (Essex Boys) als Mortimers Cop-Kollege und Liam Cunningham (The Tournament, Centurion), in seinem Pub spielt Caine immer Schach, dank fehlender Hintergrundinfos etwas blass. Als krimineller Jugendlicher kann sich allerdings Necomer Ben Drew (Adulthood) etwas mehr in den Vordergrund spielen indem er als wütender, überheblicher und skrupelloser Antagonist mit vollem Körpereinsatz agiert. Solch einem Typen möchte man nun wirklich nur ungern über den Weg laufen. Das weiß auch Harry und versucht ihm und seinen dealenden Kumpels immer aus dem Weg zu gehen - auch wenn das bedeutet dass er einen Umweg gehen muss. Da wird der Weg durch die Unterführung zum Sinnbild für die sozialen Zustände.
DVD (Lionsgate UK, PAL, RC2)
Der Film wird im anamorphen 2.35:1-Format präsentiert. Der englische Ton liegt in DD 5.1 vor. Englische Untertitel sind optional zuschaltbar. Als Extras gibt es eine Interviewreihe mit der Besetzung und dem Regisseur (ca. 43 min) sowie den munteren Audiokommentar mit Regisseur Baber und Star Michael Caine. Insbesondere Caine ist nicht auf den Mund gefallen.
Verrohte Jugend im Clash mit verlorengegangenen Werten, eingefangen in präzisen, packenden Bildern vom deutschen Kameramann Martin Ruhe. Ein grandioser Auftritt von Altstar Michael Caine in einem sehenswerten, spannenden Thriller, der weniger auf Effekte als auf Charaktere setzt.